Schaffen und Nachahmen
Kreative Prozesse im Mittelalter
Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen, 17.-20.3.2019
In der Gegenwart wird das Verhältnis von Schaffen und Nachahmen und deren Bedeutung für kreative Prozesse neu ausgehandelt: Die Postmoderne hat das Subjekt dezentriert und intensiv über den Tod des Autors diskutiert. Die Möglichkeiten, die erst die Informationstechnologie und das Internet eröffnet haben, generieren neuartige Debatten über die Grenzen von Urheberschaft und das Verhältnis von Original und Kopie, Zitat und Plagiat. Im Internet ist ein Urheberrecht kaum zu behaupten, „Copy and Paste“ sind längst Praxis. Hier werden Seiten gespiegelt, Aussagen, Bilder und Filme anderer Seiten kompiliert, Zitate nicht mehr angeführt, sondern verlinkt. Symptome dieses Wandels kreativer Prozesse sind etwa die Diskussionen über Helene Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ (2010) und das Kompilieren als künstlerisches Verfahren oder auch die – durchaus politischen – Debatten über die Grenzen des Plagiats in der Wissenschaft.
Für das Tübinger Symposium möchten wir diese aktuellen Veränderungen zum Anlass nehmen, nach dem Spannungsverhältnis von Schaffen und Nachahmen im Mittelalter zu fragen und uns so der Frage der Kreativität im Mittelalter zuzuwenden. Wir gehen davon aus, dass die Manuskript- und Objektkulturen dieser Epoche Vorstellungen, Diskurse und Praktiken hervorgebracht haben, die es in dieser Hinsicht zu analysieren lohnt. Zu diskutieren wäre auch, inwiefern die historischen Phänomene dabei gegenwärtigen Entwicklungen nicht sogar näher stehen als jenen der westlichen Moderne mit ihren spezifischen Konzepten von Autorschaft, Urheberrecht, Originalität, Plagiat. Damit ist selbstverständlich keine Rückkehr ins Mittelalter behauptet – sehr wohl aber die Frage aufgeworfen, ob sich das Verhältnis unserer eigenen Kultur zu den Kulturen des Mittelalters noch ohne weiteres über dieselben dichotomischen Modelle der Alterität von Mittelalter und Moderne beschreiben lässt, wie es spätestens seit den 1980er Jahren vielfach üblich gewesen ist.
Der Spannung von Schaffen und Nachahmen bei kreativen Prozessen in dem weiten Zeitraum vom 6. bis zum 15. Jahrhundert wollen wir interdisziplinär besonders in drei Feldern nachgehen: Original – Kopie, Urbild – Abbild, Entkontextualisierung – Neukontextualisierung.
1. Original – Kopie: Die Unterscheidung von Original und Kopie ist seit jeher Teil historischer Kritik und deshalb in verschiedensten mediävistischen Fächern – von der Kunstgeschichte bis zu historischen Grundwissenschaften wie der Diplomatik – von zentraler Bedeutung. Die Übergänge zwischen Original, Kopie, Rezension, réécriture, Überarbeitung und neuem Text waren dabei aber in den Manuskriptkulturen des Mittelalters oft genug fließend. Daraus entspringen Phänomene, die aktuell nicht zuletzt für Editionen mittelalterlicher Texte diskutiert werden: Interessanterweise eröffnen gerade das Internet und elektronische Editionen Möglichkeiten, ein Charakteristikum mittelalterlicher Überlieferung und Textualität neu und präziser abzubilden und wissenschaftlich zu erschließen.
Zugleich hat die Forschung aber auch herausgestellt, dass das Verständnis der beiden Kategorien „Original“ und „Kopie“ wie auch deren Bewertung kulturell bedingt und historisch wandelbar sind: Zeitgenossen des Mittelalters konnten beispielsweise Kopien der Grabeskirche in Jerusalem auch dort noch sehen, wo ein heutiger Betrachter kaum eine Gemeinsamkeit zu erkennen vermag. Originalität konnte gerade in der neuen Zusammenstellung und Ordnung alten Wissens gesehen werden – oder sogar als problematisch eingestuft werden.
2. Urbild – Abbild: Die Zuordnung von Urbild und Abbild gehört zu den grundlegenden Konzepten neuplatonischer Philosophie und Theologie – in ihr drückt sich die Differenz wie die Zusammengehörigkeit zugleich aus; Abbildhaftigkeit ist so auch ein Partizipationsvorgang, in dem die Kreativität des Menschen als Nachahmung des göttlichen Schaffens verstanden wird. Ihre Bedeutung reicht aber weit über diese Bereiche hinaus: Übersetzungsprozesse etwa der hochmittelalterlichen Epik wissen gleichfalls um das komplexe Verhältnis zwischen einem nachahmenden Abbild und einem vorgeprägten Urbild. Kunststile entwickeln sich vielfach durch Nachahmung, so wie auch ganze Stadtensemble – Rom oder Jerusalem – in anderen architektonischen Kontexten abgebildet werden und Anteil an ihrem Urbild geben. Theologisch wird das Verhältnis grundlegend in der Frage der Gottebenbildlichkeit behandelt, aber auch im Blick auf liturgische Fragen wie im byzantinischen Bilderstreit oder im Eucharistiestreit im Frankenreich des 9. Jahrhunderts. Literarisch und rechtshistorisch ist zu fragen, in welcher Weise in früher einfach als „Fälschungen“ eingeordneten Nachahmungsvorgängen – etwa bei Pseudo-Isidor, Benedictus Levita oder Pseudo-Dionysios – im Abbildcharakter auch die Partizipation am Urbild mitschwingt.
3. Entkontextualisierung – Neukontextualisierung: Die beschriebenen Prozesse betreffen nicht nur Objekte als Ganze, sondern auch ihre Teile: Vielfach werden Einzelstücke aus ihrem originalen Kontext in einen neuen Kontext gesetzt. Zitate gewinnen einen neuen Charakter, wenn sie in einen anderen literarischen Kontext gesetzt werden, Spolien lassen das Original noch erkennen und dienen doch einem ganz andern Zusammenhang und werden mit neuer Bedeutung aufgeladen. Eklektizismus bedient sich mannigfacher Stücke aus anderen Zusammenhängen, um sie zu einem neuen Ganzen zusammenzusetzen. Durch Vorgänge der Zitation oder des Reframings erfolgt eine mannigfache Umsemantisierung. So entstehen vielfach Werke, die leicht als nachahmende Kompilation abgewertet werden können, in denen aber die Persistenz des Vorgegebenen und die schöpferische Kraft der Neukonstitution eine anregende Spannung eingehen: Vorgegebenes wird bewahrt, neu zum Sprechen gebracht oder kreativ weiterentwickelt.
Das Thema eignet sich für mediävistische Fachvorträge der im Verband vertretenen Disziplinen. Es bietet darüber hinaus die Möglichkeit, eine Podiumsdiskussion über Urheberschaft und Plagiat im Zeitalter des Internets zu veranstalten, in der in produktiver Weise mediävistische Forschung mit gegenwärtigen Debatten vernetzt werden könnte. Außerdem ist das Thema geeignet, Schülersektionen zu veranstalten – und auf diese Weise die Epoche des Mittelalters noch weiter in der schulischen Praxis sichtbar zu machen.
Zu den genannten drei Themenfeldern werden Vorschläge für Sektions- oder Einzelbeiträge sowie interaktive workshops erbeten:
Dauer einer Sektion: in der Regel 1½ Stunden mit drei Vorträgen (inkl. Diskussion).
Vortragsdauer: nicht länger als 20 Minuten.
Bei von Teams selbstständig gestalteten Sektionen oder interaktiven workshops mit drei oder vier Vorträgen ist darauf zu achten, dass die Rede- und Diskussionszeit die vorgegebene Sektionsdauer von 1½ Stunden nicht überschreiten. Ferner sollen – im Sinne der interdisziplinären Ausrichtung des Verbandes – bei drei Vortragenden mindestens zwei, bei vier Vortragenden mindestens drei verschiedene Fächer beteiligt sein.
Die Veranstalter sind Ihnen dankbar, wenn die Exposés folgendem Aufbau folgen:
· Nummer des Themenblocks (s. o., 1-3)
· Ihre Adresse (inkl. E-mail); bei Sektionsvorschlägen die Adresse des/der Verantwortlichen
· Exposé von maximal 7000 Zeichen (Sektionsvorschlag) bzw. 1500 Zeichen (Einzelvorschlag, workshop)
Die Veranstalter bitten darum, die zu Sektionen gehörigen Exposés nicht auch einzeln einzureichen. Es wird ausdrücklich begrüßt, wenn in den Teams auch Nachwuchswissenschaftler/innen zu Wort kommen.
Bitte richten Sie Ihre Vorschläge, vorzugsweise per E-Mail mit Attachment, bis zum 28. Februar 2018 an folgende Adresse:
Prof. Dr. Volker Leppin
Evg.-Theol. Fakultät
Institut für Spätmittelalter und Reformation
Eberhard Karls Universität Tübingen
Liebermeisterstr. 12
D-72070 Tübingen